Heute muss ich gar nicht mehr perfekt sein!
Ganz nebenbei hat Annett in einem Gespräch mit ihrer Ärztin erfahren, dass bei ihrer Lungenkrebsart eine Mutation vorliegt. Daraufhin hat sie angefangen, sich zu informieren und mit anderen Betroffenen auszutauschen. Im Interview berichtet sie, wie sie seit der Diagnose mit Lungenkrebs lebt.
Annett ist Ende 40, als sie ihre Lungenkrebsdiagnose erhält. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer jugendlichen Tochter zusammen. Anfang 2020 bemerkt sie Probleme bei der Atmung im Liegen. Annetts Hausärztin stellt zunächst nichts Ungewöhnliches fest. Weitere Untersuchungen bringen jedoch Gewissheit.
Annett über ihre Erfahrungen mit Lungenkrebs: Diagnose, Therapie und Alltag
Das Interview haben wir Ende des Jahres 2021 mit Annett geführt.
Liebe Annett, wie hast du von deiner Lungenkrebsdiagnose erfahren?
Nachdem ich gemerkt habe, dass ich beim Liegen auf der linken Seite nicht richtig atmen konnte, bin ich zu meiner Hausärztin gegangen. Mit meinen Blutwerten war alles in Ordnung. Sie hat mich abgehört und konnte auch dabei nichts feststellen. Daraufhin habe ich eine Woche abgewartet, bin wieder hingegangen und habe gesagt: „Ich habe Angst, dass ich Lungenkrebs habe.“ Ich hatte ein ganz schlechtes Gefühl, habe es irgendwie gewusst oder geahnt. Deswegen habe ich auch nicht lockergelassen, als die Probleme mit der Atmung nicht weggegangen sind. Durch Röntgen und CT konnte meine Vermutung bestätigt werden. Drei Wochen nachdem ich die ersten Anzeichen bemerkt hatte, stand die Diagnose dann fest.
Was waren deine ersten Gedanken bei der Diagnosestellung?
Auf dem Röntgenbild war erst einmal nur einen Schatten zu sehen. Zu dem Zeitpunkt wussten wir noch nicht wirklich, was es ist. Aber ich dachte sofort und sagte auch zu dem Arzt „Dann sterbe ich ja jetzt gleich.“ Lungenkrebs hatte ich immer gleich mit dem Tod in Verbindung gebracht.
Sind dir noch weitere Annahmen über das Leben mit Lungenkrebs begegnet, die sich in den Köpfen gefestigt haben?
Lungenkrebs wird häufig nur mit dem Rauchen in Verbindung gebracht. Ich habe früher zwar geraucht – das ist jetzt fast 20 Jahre her – aber man hat mir in der Klinik gesagt, dass das bei meiner Erkrankung überhaupt keine Rolle spielt. Diese Mutation, die mein Tumor hat, hängt nicht mit dem Rauchen zusammen.
„Als Lungenkrebsbetroffene hat man immer das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, wenn man jemandem von der Erkrankung erzählt.“
Annett, Lungenkrebsbetroffene
Wie hast du davon erfahren, dass eine Genmutation bei deiner Art von Lungenkrebs vorliegt?
Nach dem Röntgen und dem CT habe ich mich beraten lassen, in welcher Klinik ich mich behandeln lassen sollte. Mir wurde dann ein Lungenzentrum empfohlen. Drei Tage später sollte ich bereits einen Aufnahmetermin bekommen, habe aber am nächsten Tag Fieber entwickelt und Blut gespuckt und wurde deswegen sofort aufgenommen. Aufgrund einer Influenza war es in der ersten Woche nicht möglich, die notwendigen Untersuchungen durchzuführen. Aber ungefähr nach eineinhalb Wochen wurde Gewebe entnommen, eine Bronchoskopie und ein CT sowie ein MRT gemacht.
Dass eine Mutation vorliegt, habe ich erst nach drei Monaten erfahren. Mein Behandlungsteam hat damals nur zu mir gesagt: „Wir machen jetzt eine Chemotherapie und eine Bestrahlung mit dem Ziel, den Tumor operativ entfernen zu können.“
Zwischen der letzten Chemotherapie und der stationären Bestrahlung war ich für vier Wochen zu Hause, um Kraft zu sammeln. In dieser Zeit habe ich meine Ärztin angerufen, weil ich noch Fragen hatte, beziehungsweise ich mir Sorgen gemacht habe. Da hat sie mich gefragt: „Wissen Sie eigentlich, dass Ihr Tumor eine Mutation aufweist? Falls wir Sie nicht operieren können, können wir Sie gut mit Tabletten behandeln.“ Genaueres habe ich aber auch da nicht erfahren.
Wie hast du dich in der ersten Zeit nach der Diagnose und bei Behandlungsbeginn gefühlt?
Ich hatte sehr große Angst zu sterben. Durch die Influenza und die Entzündung, die sich in meiner Lunge nach der Bronchoskopie gebildet hatte, ging es mir sehr schlecht. Den Beginn der Behandlung konnte ich kaum erwarten.
„Ich wollte damals nur, dass jetzt etwas anfängt – dass meine Behandlung beginnt.“
Annett, Lungenkrebsbetroffene
Bei der ersten Chemotherapie war ich sehr aufgeregt, ich dachte: „Jetzt geht es endlich los!“ Damals hat mich die Stationsärztin in den Arm genommen, weil sie gemerkt hat, wie es mir ging – das fand ich toll.
Zwei Wochen später fingen meine Haare an, auszufallen. So etwas vergisst man auch nicht. Mein Mann hat sie mir dann drei Tage später auf meinen Wunsch hin abrasiert. Es war schlimm, zu sehen, wie es jeden Tag immer weniger wurden. Ich wollte, dass das vorbei ist und habe den Entschluss gefasst: „Ich nehme das jetzt selbst in die Hand. Meine Haare nimmt mir nicht der Krebs weg!“
Gibt es etwas, wobei du dir wünscht, du hättest es früher gewusst?
Ich habe trotz Chemotherapie und Bestrahlung Metastasen bekommen und konnte deshalb nicht operiert werden. Die Frage, die ich mir oft stelle, ist: Wäre es nicht sinnvoller gewesen, vorher eine zielgerichtete Therapie zu beginnen, die ich inzwischen erhalte, damit es gar nicht so weit gekommen wäre, dass Metastasen auftreten? Seitdem sind bei mir nämlich keine Absiedelungen mehr nachweisbar. Aber mir ist immer gesagt worden, der Behandlungsweg richte sich nach Leitlinie, die diesen Ablauf vorgibt.
Welche Anlaufstellen findest du hilfreich, um dich über deine Erkrankung zu informieren? Mit wem tauscht du dich über deine Gedanken aus?
Im Krankenhaus gab es eine Psychoonkologin, mit der ich oft gesprochen habe. Ich habe dann auch hier bei mir zu Hause professionelle Unterstützung gesucht, aber nach drei Sitzungen festgestellt, dass wir einfach nicht miteinander harmonieren. Daraufhin habe ich mich an die regionale Krebsberatungsstelle gewandt und auf diese Weise Kontakt zu einer Psychologin hergestellt, bei der ich regelmäßig Onlinesitzungen wahrgenommen habe. Hilfreich finde ich auch den Verein Zielgenau, bei dem es immer neue Informationen zu Studien, neuen Medikamenten und Behandlungsmethoden gibt.
„Über Instagram habe ich Frauen kennengelernt, die auch mit Lungenkrebs leben. Wir haben regelmäßigen Kontakt und tauschen uns dazu aus, wie es uns geht oder was es Neues gibt.“
Annett, Lungenkrebsbetroffene
Wie hat dein persönliches Umfeld auf deine Diagnose reagiert?
Ich habe großen Rückhalt durch meine Familie und unsere engsten Freunde. Alle waren natürlich sehr geschockt und traurig – und machen sich viele Gedanken. Es gibt natürlich auch Menschen die nicht mit solch einer Diagnose umgehen können und sich zurückziehen. Andere Beziehungen festigen sich aber und es entstehen auch sehr schöne neue Verbindungen.
Wie hast du mit deiner Tochter über deine Lungenkrebsdiagnose gesprochen?
Das haben wir im Krankenhaus mit der Psychoonkologin zusammen gemacht. Anfangs haben wir gesagt: Wir wissen noch nicht, was ist, aber mir geht es nicht gut. Als dann feststand, dass es ein Tumor ist, hat die Ärztin gefragt, ob mein Mann und ich Hilfe dabeihaben möchten, unserer Tochter die Situation in Ruhe zu erklären.
Ich war acht Monate lang nach der Diagnose zu Hause. Meine Tochter ist durch die COVID-19-Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung auch nicht in die Schule gegangen. Diese Zeit war für uns sehr, sehr wichtig. Ich glaube, für sie war es gut zu sehen, dass ich mich immer wieder nach den Behandlungen erholt habe. Wir haben ganz viel über die Situation gesprochen und vereinbart, offen und ehrlich zueinander zu sein und dass sie immer alles erfährt. Meine Tochter hat mir in der gesamten Zeit immer wieder Mut gemacht und Kraft gegeben – und das tut sie jetzt immer noch. Sie sagt immer: „Mama du schaffst das. Wir schaffen das!“ Ich merke natürlich, dass sie sich Sorgen um mich macht. Daher haben wir ihr vorgeschlagen, die Möglichkeit zu nutzen, mit der Psychoonkologin zu sprechen, wenn sie diese Unterstützung wahrnehmen möchte.
Wobei wünscht du dir, dass dein persönliches Umfeld deine Situation noch besser nachvollziehen könnte?
Ich möchte nicht nur gefragt werden, wie es mir geht, sondern ehrliches Interesse an meinem Weg. Ich erwarte, dass akzeptiert wird, was ich unterstützend zur Schulmedizin mache. Das fängt schon beim Thema Ernährung an: Ich möchte mich nicht rechtfertigen müssen, dass ich kein Fleisch und keine Milchprodukte mehr esse. Auch wenn mancher Ratschlag sicher nur gut gemeint ist! Es ist mein Weg und bei allem, was ich tue, bin ich überzeugt davon, dass es mir hilft.
Hast du Lebensgewohnheiten in Abstimmung mit deinem Behandlungsteam gewandelt oder vielleicht auch neue entwickelt, nachdem du die Diagnose erhalten hast?
Ja, ich nehme mir mehr Zeit für mich selbst. Ich ernähre mich noch gesünder, auch wenn ich schon immer auf eine ausgewogene Ernährung Wert gelegt habe. Ich versuche, mehr Sport zu treiben, mehr rauszugehen und auch mal zu Hause etwas liegen zu lassen. Das konnte ich früher nicht. Ich habe zuerst alles andere erledigt und bin dabei, glaube ich, zu kurz gekommen. Inzwischen arbeite ich auch wieder, allerdings weniger als vor meiner Erkrankung.
Welche Botschaft möchtest du anderen Menschen mit Lungenkrebs mit auf den Weg geben?
Betroffene sollten sich auf jeden Fall eine Zweitmeinung einholen. Ich glaube, dass man in vielen Fällen nichts überstürzen muss. Ich denke, dass jeder seinen Weg für sich finden und hinter allen Entscheidungen stehen können sollte.
Wichtig ist auch, sich mit anderen auszutauschen, ich fand es zum Beispiel sehr schwer, Informationen zu finden. Vieles, das man liest, ist sehr fachlich. Durch den Austausch mit anderen Betroffenen auf Instagram habe ich viele Tipps bekommen, was man sonst noch zu seiner Genesung und Gesundheit beitragen kann. Vor allem würde ich aber empfehlen, bei den Ärzten nachzufragen. Ich lasse mir immer alles so lange erklären, bis ich es wirklich verstehe.
Hat sich nach der Diagnose deine Sichtweise auf das Leben oder auf deinen Alltag gewandelt?
„Meine Psychoonkologin hat mir am Anfang mal gesagt: ,Sie müssen jetzt ganz liebevoll mit sich und Ihrer Erkrankung umgehen.‘ Das konnte ich erst gar nicht verstehen.“
Annett, Lungenkrebsbetroffene
Ich hatte anfangs im Kopf, ich müsste jetzt gegen die Erkrankung ankämpfen. Mittlerweile glaube ich, dass gegen den Krebs zu kämpfen gar nicht gut ist, denn ein Kampf bedeutet Stress und schwächt das Immunsystem. Ich habe wirklich den Eindruck, dieser liebevolle Umgang mit mir selbst ist ganz wichtig. Das bedeutet, auf mich und meine Bedürfnisse zu hören.
Ich nehme vieles heute nicht mehr so wichtig. Gesundheit ist wirklich das höchste Gut, das man haben kann. Früher wollte ich immer alles perfekt haben. Ich habe gearbeitet, dann musste zu Hause alles noch in Ordnung sein und erst wenn alles erledigt war, habe ich mir mal Zeit für mich gegönnt. Mittlerweile denke ich, wenn ich jetzt mal nicht direkt den Haushalt mache und auch mal etwas liegen lasse, ist das auch nicht so schlimm! Ich habe viel mehr davon, wenn ich jetzt spazieren gehe, etwas mit meiner Familie unternehme oder mich mit Freunden treffe. Es muss nicht mehr alles perfekt sein. Ich versuche auch, in vielen Dingen gelassener zu sein, keine unnötige Energie zu verschwenden und vor allem positiv zu denken.
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Inhaltlich geprüft: M-DE-00016342