Mehr als Lungenkrebs: Ich bin Christian
In unserer Reihe „MEHR ALS LUNGENKREBS“ teilt Christian seine Eindrücke, welche Chancen die Krebsforschung Betroffenen heute bietet. Erfahre, wieso er es so wichtig findet, die eigene, individuelle Situation mit Ärztinnen und Ärzten zu besprechen und wie Christians Erfahrungen mit Selbsthilfe seinen Alltag verändert haben.
Meine Zeitrechnung beginnt im Jahr 2007. Ich bin Christian, von Beruf Physiker, aber schon seit Urzeiten in der Softwareindustrie im Bereich Entwicklung tätig. Auch privat verbringe ich eigentlich viel zu viel Zeit am Rechner. Abgesehen davon beschäftige ich mich gerne mit Astronomie und Philosophie. Aber man findet mich auch draußen: Ich reise gerne und fahre Ski. Zusammen mit meiner Frau und meiner Tochter lebe ich in Heidelberg. Mein Alter? Moment, da muss ich rechnen … Denn im Jahr 2007 begann eine neue Zeitrechnung für mich: In diesem Jahr wurde bei mir ein Bronchialkarzinom diagnostiziert. Und das ist nun 16 Jahre her. Also bin ich jetzt 57 Jahre alt!
Ich gab „Bluthusten“ in eine Suchmaschine ein
Es fing an im Frühjahr 2007. Es waren gerade Osterferien und ich hatte eine leichte Erkältung. Für mich ungewöhnlich war, dass ich Blut hustete. Bei der Arbeit gab es gerade wenig zu tun, also gab ich einfach mal in eine Suchmaschine „Bluthusten“ ein. Ich stieß auf einige Beiträge aus Foren zum Thema Lungenkrebs, blieb aber rational und sagte mir: „Nein, du bist gesund!“. Doch hat es mich so weit sensibilisiert, dass ich einen Arzt aufsuchte, um mir schriftlich geben zu lassen, dass alles in Ordnung ist. Dann kam die Überraschung: Im Röntgenbild war nicht alles in Ordnung. Wie sich herausstellte, hatte ich ein Adenokarzinom im Stadium IIIB – ein relativ fortgeschrittenes Stadium, in meinem Fall aber operabel.
Dennoch war die Aussage des Oberarztes bei meiner Erstdiagnose: „Wenn es noch etwas Wichtiges zu erledigen gibt in Ihrem Leben, tun Sie es jetzt.“ Der Satz hat mich sehr getroffen, ich war fast empört! Ich war doch bis vor einer Woche noch gesund?! Und was kann es denn jetzt überhaupt noch Wichtiges geben? Erst in der Reha merkte ich, dass der einprägsame Satz des Oberarztes auch ein wahnsinnig schönes Motto ist, nach dem man leben kann – ob schwer krank oder eben nicht.
Ich erhielt alle Therapieoptionen, die damals zur Verfügung standen: OP, Radio- und Chemotherapie (Stahl, Strahl - Chemie).
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Die Chemotherapie war extrem herausfordernd für mich. Bei mir waren die Nebenwirkungen massiv. Und natürlich hatte ich auch Angst. Aber in dieser Situation keine Angst zu haben, wäre doch viel ungewöhnlicher gewesen, oder? Meine große Kraftquelle in dieser Zeit war meine Familie. Meine kleine Tochter stand kurz vor der Einschulung. So wusste ich direkt, wofür ich das alles durchstehe. Allerdings war eine der schlimmsten Erfahrungen für mich, nach der OP in die angsterfüllten Augen meiner Tochter zu sehen. Das Thema Familie war also während meiner Erkrankung ein zweischneidiges Schwert für mich. Und neben meiner Angst und der meiner Familie war für mich die Ohnmacht noch viel belastender. So viele Menschen arbeiten daran, etwas für mich und meine Gesundheit zu tun – und ich? Ich konnte so wenig selbst beitragen.
Bei den Überlebenskurven dachte ich direkt an radioaktiven Zerfall
Herausfordernd war auch, die unterschiedlichen Informationen der einzelnen Ärztinnen und Ärzte aus den verschiedenen Fachrichtungen – die ja alle auch ihre eigene Art der Kommunikation haben – zu bewerten. Und das als Physiker!
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Von „Wir sind bei Ihnen auf einem guten Weg“ hin zu „Ihr Zustand ist zwar gerade stabil, aber Statistiken sagen etwas anderes“ habe ich alles gehört und es fiel mir schwer, das Gehörte zu einem konsistenten Gesamtbild zurechtzurücken. Ich habe immer auf eine Zahl gewartet … Habe ich noch 6 Monate, 6 Jahre, 60 Jahre? Niemand hat mir eine genannt. Und ich habe nicht gefragt. Für mich war das der große Elefant im Raum. Heute weiß ich es besser: Manche Betroffenen möchten keine Zahl wissen und viele Ärztinnen und Ärzte geben ihren Patientinnen und Patienten solche Zahlen ungern mit auf den Weg.
Damals habe ich im Internet nachgelesen und bin auf Überlebenskurven gestoßen. Das, was ich da gesehen habe, hat mir nicht gefallen. Diese Kurven erinnerten mich an einen radioaktiven Zerfall! Und hier lassen sich einige Parallelen ziehen: In der Physik zeigt die Kurve die Halbwertszeit des radioaktiven Stoffs in seiner Gesamtheit. Doch es ist nicht möglich, die genaue Zerfallszeit für ein einzelnes Atom abzulesen. Und so ist es auch beim Lungenkrebs: Es ist eben nicht klar, wie lange ein einzelner Betroffener leben wird – die Kurve ist reine Statistik. Was mich damals auch etwas beruhigt hat, ist: Die Kurven sind basierend auf Zahlen aus der Vergangenheit entstanden, lange vor meiner Diagnose. Seitdem gab es Fortschritte, auch wenn diese im Jahr 2007 noch nicht so groß waren wie heute.
Engagement in der Selbsthilfe – Mich an den Wert des Lebens erinnern
Während der Therapie war ich oft verzweifelt und dachte: „Ich will mein altes Leben zurück!“. Ich stand im Rahmen einer Wiedereingliederung ein Jahr später schon wieder im Berufsleben. Wenige Monate danach arbeitete ich auch wieder Vollzeit. Als ich wieder im „alten“ Leben Fuß fasste, wurde mir jedoch eine Sache bewusst: Ich habe mehr vom Leben zurückbekommen, als mir lieb war. Der Alltag schlich sich wieder ein!
So schrecklich die Diagnose auch war, sie hat mich gelehrt – und ich weiß, wie platt das klingt – welchen Wert das Leben hat und wie wunderbar ich mich an kleinen Dingen erfreuen kann. Und doch war ich erschrocken, wie schnell sich diese Wahrnehmung im Alltag doch wieder abschwächt.
Christian, Lungenkrebsbetroffener
Ich wollte nicht die Verbindung zu dem Thema Lungenkrebs und der neuen Wertschätzung meinem Leben gegenüber verlieren. Ich merkte zum Beispiel in meiner Reha, dass der Austausch mit anderen Betroffenen in einer ähnlichen Situation enorm hilfreich für mich war, um meinen eigenen Umgang mit der Erkrankung zu finden.
Der Weg dahin ist mit Arbeit verbunden, es gilt einiges zu lernen, und doch empfehle ich das allen Betroffenen. Die Erfahrung, dass die Gespräche mit anderen Betroffenen mir so geholfen haben, weckte in mir das Bedürfnis, das, was ich von diesen Menschen erhalten habe, an andere zurückzugeben oder auch ein motivierendes Beispiel für einen möglichen Krankheitsverlauf zu sein.
So kam ich zu meinem Engagement in der Selbsthilfe. Selbsthilfe ist im Lungenkrebsbereich gar nicht so selbstverständlich wie bei anderen Krebsarten. Das hängt unter anderem mit der (Eigen-)Stigmatisierung von Lungenkrebsbetroffenen. Da Lungenkrebs oft mit dem Rauchen als mögliche Ursache assoziiert wird, denken Betroffene häufig, dass sie selbst schuld sind und ein Hilfegesuch oder Unterstützung in Form einer Selbsthilfegruppe nicht angebracht ist. Wir in der Selbsthilfegruppe halten dagegen und sagen: „Es ist möglich, dass dein Verhalten dazu beigetragen hat, Lungenkrebs zu bekommen, jedoch hat es niemand verdient. Was aber alle verdienen, ist Hilfe!“. Ich persönlich habe nie besonders unter Stigmatisierung gelitten, jedoch wundere ich mich schon über die Frage.
Oft kommt die Frage auf: „Haben Sie geraucht?“ Das wundert mich. Denn egal wie die Antwort lautet, sie ändert nichts an der Tatsache, dass ich nun Lungenkrebs habe.
Christian, Lungenkrebsbetroffener
Im Landes- und auch Bundesverband der Selbsthilfe bringe ich gern meine Stärken ein. Also nehme mich eher technischen Dingen an, wie der Homepage, oder kümmere mich um virtuelle Meetings. Aber ich mag es auch, mich international zu vernetzen und engagiere mich gerne dort, wo es Sprachbarrieren gibt. Ein Herzensprojekt ist außerdem die Mitarbeit an der S3-Leitlinie Lungenkarzinom, für deren Erstellung wir Betroffenen mit am Tisch sitzen dürfen. Natürlich geben wir keinen fachlichen Input, bringen aber die wertvolle Perspektive der Menschen ein, die die Therapien erhalten.
Der medizinische Fortschritt bedeutet für Betroffene auch: Raus aus der Ohnmacht
Es ist enorm, welche Therapiefortschritte es seit meiner Diagnose gab! Bei mir galt noch der Therapieansatz „One size fits all“, bei dem ich mich als Betroffener auch kaum einbringen konnte. Heute, mit zielgerichteten Therapien und Immuntherapien in allen Stadien und der Möglichkeit, als Betroffener selbst tiefer einzutauchen, mitzudenken und sich einzubringen in die Therapieentscheidung ist das etwas ganz anderes. Dieser Fortschritt ist großartig und nimmt einem ein bisschen das Gefühl der Hilflosigkeit! Ein heute frisch diagnostizierter Mensch kann viel mehr Hoffnung daraus schöpfen, dass bei den wachsenden Möglichkeiten eine wirksame Therapieform für ihn dabei ist.
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Als Patientenvertreter bekomme ich auch mit, dass häufig junge Betroffene, insbesondere die mit Treiberalterationen, zum einen sehr viel informierter sind, aber auch viel besser durch behandelnde Ärztinnen und Ärzte aufgeklärt werden. Das geht so weit, dass Shared Decision Making (deutsch: gemeinsame Entscheidungsfindung) möglich ist. Und das ist gut so: Jeder Mensch ist anders. Und jedem Menschen sind unterschiedliche Aspekte wichtig, die auch die Wahl der Therapie beeinflussen können. Die Entscheidungen und Einflussfaktoren sind sicherlich auch abhängig von der individuellen Lebensphase.
Meine persönliche Perspektive gebe ich auch bei meiner Mitarbeit als Betroffener an der S3-Leitlinie Lungenkarzinom zu bedenken. Für mich trägt auch das zu einer guten Behandlung bei: Wenn Ärztinnen und Ärzte den Betroffenen einen Raum für ihre Bedürfnisse eröffnen, ihnen zuhören und auf sie eingehen. Die Möglichkeit von Betroffenen, sich heutzutage mit Wissen und somit eigenen Präferenzen in die Therapieentscheidung mit einbringen zu können, das empfinde ich als enorm wichtig.
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Und diesen Fortschritt darf man nicht einbremsen. Denn jede neue Therapieoption kann eine Bereicherung sein, selbst wenn sie „nur“ gleichwertig zu anderen Therapien ist. Für mich fragwürdig ist daher eher, dass nur das zugelassen wird, was einen Zusatznutzen gegenüber der Standardtherapie zeigt. In meinen Augen sind mehr Pfeile im Köcher ein Zusatznutzen für die Betroffenen. Sie geben mehr Sicherheit und auch mehr Optionen für bestmögliche Verträglichkeit, die ja sehr individuell ist.
Was mich aktuell außerdem beschäftigt, ist die Diskussion um das Früherkennungs-Screening, bei der manche Menschen zögern. Es stellt sich die Frage: Was ist schlimmer? Der kurze Moment der Angst vor Lungenkrebs bei einer möglicherweise falsch-positiven Diagnose … oder die Angst, der man später bei einer sicheren Diagnose im fortgeschrittenen Stadium ausgesetzt wäre, wenn die Erkrankung nicht frühzeitig entdeckt werden kann? Die Antwort ist doch eindeutig!
Inhaltlich geprüft:M-DE-00019375