Mehr als Lungenkrebs: Ich bin Annette
Durch einen Zufall erhält Annette ihre Lungenkrebsdiagnose. Ihr Arzt besteht auf die Behandlung in einem spezialisierten Zentrum und so lernt sie, wie wichtig es ist, sich genau mit der Erkrankung auseinanderzusetzen. Seitdem begleitet Annette auch andere Betroffene sowie Angehörige auf ihrem Weg. In unserer Reihe „MEHR ALS LUNGENKREBS“ berichtet sie von ihrem Engagement in der Selbsthilfe.
2 Prozent Überlebenschance – heute bin ich hier. Mein Enkelkind in den Armen zu halten, kennenlernen und begleiten zu können: Das ist für mich das Größte! Denn das hatte ich lange Zeit nicht zu hoffen gewagt, als ich im Jahr 2005 meine Lungenkrebsdiagnose erhielt.
Alles fing mit Schmerzen im rechten Oberarm an. Anfangs dachte ich noch, dass das sicherlich von der Arbeit kommt. Ich habe im Lager gearbeitet. Da kann man sich schon mal einen Nerv einklemmen. Also habe ich erst einmal abgewartet. Ich war noch nie der Typ Mensch, der bei den ersten Beschwerden gleich zum Arzt geht. Doch es wurde nicht besser – im Gegenteil: Es wurde schlimmer. Irgendwann bin ich dann doch zum Orthopäden gegangen. Anamnese und Röntgen waren ohne Ergebnis. Auch der Arzt meinte, dass ich in der Arbeit kürzertreten sollte, dann würde es schon besser werden. Aber falsch gedacht! Es wurde schlimmer und ohne starke Schmerzmittel ging es einfach nicht mehr. Inzwischen waren die Schmerzen auch in den Rücken gewandert und unerträglich. Der Arzt veranlasste deshalb ein MRT und tatsächlich: An zwei Stellen war die Bandscheibe draußen. Durch Zufall war auch ein Stück Lunge mit auf den Aufnahmen – und da war etwas, was dort nicht hingehörte. Der Radiologe war besorgt und ich musste weiter zum CT.
Ab da änderte sich alles: Zur Besprechung der Ergebnisse wartete ich ungewöhnlich lang. Als ich dann endlich drankam, tat sich der Arzt merklich schwer, mit der Sprache rauszurücken. Als er schließlich sagte, dass ein Tumor in der Lunge gefunden wurde, wäre ich am liebsten schreiend aus der Klinik raus und nach Hause gerannt. Ich war davon überzeugt, dass ich jetzt sterben muss. Ich habe mir selbst null Überlebenschance gegeben.
Als ich meine Lungenkrebsdiagnose erhielt, dachte ich, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt – und jetzt bin ich 18 Jahre später hier.
Annette, Lungenkrebsbetroffene
In diesem Moment habe ich nicht begriffen, was für ein Glück ich in diesem großen Unglück hatte – wäre dieser Lungenzipfel nicht auf meinem ersten MRT drauf gewesen, wäre nur mein Bandscheibenvorfall behandelt worden. Das Lungenkarzinom wäre womöglich erst entdeckt worden, wenn schon alles viel zu spät gewesen wäre – sonst hatte ich ja keinerlei Symptome. Ich hatte keinen Husten, keine Atemnot. Mir ging es bis auf diese Arm- und Rückenschmerzen gut.
Selten und mir damals völlig unbekannt: Pancoast-Tumor
Nachdem sich das Lungenkarzinom im CT gezeigt hatte, schickte mich mein Orthopäde mit diesen Bildern zu meinem Hausarzt. Für den war klar, dass ich zu einem Pneumologen muss – und nicht zu irgendeinem, sondern direkt in eine Lungenfachklinik. Das zertifizierte Zentrum, in das mich mein Hausarzt überweisen wollte, war allerdings 70 Kilometer von meinem Wohnort in Worms entfernt. Das war mir dann doch ein wenig weit und ich hatte noch gefragt, ob ich nicht einfach ins Krankenhaus um die Ecke kann. Aber mein Hausarzt hat auf dieses Fachzentrum bestanden.
Als ich dort einen Termin machen wollte, fragte man mich, was für einen Krebs ich hätte … „Na, Lungenkrebs!“, sagte ich immer und immer wieder auf die Nachfragen. Ich habe nicht verstanden, weshalb sie mich das immer wieder fragten. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch gar nicht, dass es verschiedene Arten gibt. Ich wusste nur, dass Lungenkrebs sehr gefährlich ist – und sogar tödlich sein kann.
Erfahre, welche Arten und Ausprägungen bei Lungenkrebs unterschieden werden – und warum das wichtig ist >>>
Drei Tage später hatte ich schon den Termin im Fachzentrum und wurde dort weiter untersucht. Jedes Mal hatte ich Angst. Es war alles neu für mich und ich wusste nicht, was da auf mich zukommt. Natürlich sagten mir die Ärztinnen und Ärzte, was gemacht wird, doch verstand ich das meiste nicht. Was kann ein Laie zum Beispiel mit dem Begriff Knochenszintigramm (Skelettszintigramm) anfangen?! Nach den verschiedenen Untersuchungen wurde dann die endgültige Diagnose gestellt: Pancoast-Tumor. Das sagte mir damals natürlich überhaupt nichts. Ich habe erst später erfahren, wie gefährlich diese Tumorart ist und wie gering die Überlebenschancen ausfallen.
Heute weiß ich, dass ich zum Zeitpunkt meiner Diagnose etwa zwei Prozent Überlebenschance hatte. Dass ich das erst im Nachhinein verstanden habe, war mein Glück!
Annette, Lungenkrebsbetroffene
Ich war ohnehin eher der pessimistische Mensch und hätte wahrscheinlich gedacht: „Es hilft sowieso nichts – bei meinem Glück!“ Mein Mann musste mir so schon gut zureden: „Sei doch mal optimistisch und vertrau den Ärzten!“ Und die sagten mir immer wieder, dass ich das große Glück hätte, dass es nur ein Tumor ist: ohne Metastasen, ohne Lymphknotenbefall. Aber in einer solchen Situation von Glück zu sprechen, ist immer noch schwer nachvollziehbar.
Vor der Tumorentfernung erhielt ich erst einmal eine Radio-Chemotherapie. Als der Tumor dann klein genug war, dass die OP stattfinden konnte, mussten der rechte, obere Lungenlappen sowie 2,5 Rippen und jede Menge Brustgewebe entfernt werden. Der Tumor hatte sich schon in die Knochen und ins Gewebe reingefressen. Meine Narbe fängt oben am Hals an und geht über den Rücken bis unter die rechte Brust. Seitdem habe ich ständig Schmerzen und es ist noch immer schwierig. Ich habe mich eigentlich nie vollständig erholt.
Nach der OP hatte ich Physiotherapie, um zu lernen, den Arm wieder richtig bewegen und belasten zu können. Bei den Übungen ist mir regelmäßig der Kreislauf zusammengebrochen, weil ich so starke Schmerzen hatte. Meine Physiotherapeutin hat damals immer wieder gesagt, wie man nur so blöd schneiden könne. Aber sind wir mal ehrlich: Hätten sie nicht „so blöd“ geschnitten, wäre ich heute nicht mehr da. Aber auch heute merke ich es noch, wenn ich zum Beispiel meinen rechten Arm bewege, dann reibt die Narbe am Schulterblatt – auch nach 18 Jahren habe ich dadurch noch Schmerzen und kann meinen Arm nicht richtig belasten.
Von Ahnungslosigkeit zum Bundesverdienstkreuz
Anfangs hatte ich keine Ahnung, was Diagnosen, Untersuchungen und Behandlungen angeht. Ich habe mich mit alldem auch ziemlich allein gefühlt. 2005 gab es noch keine Selbsthilfegruppen für Lungenkrebs oder ähnliches. Ich hatte im Prinzip niemanden. Die meisten meiner Freunde haben sich von mir zurückgezogen, weil sie damit nicht umgehen konnten. Auch mein Mann hatte bis auf seinen Bruder und einen engen Freund keine Unterstützung – dabei musste er nicht nur mich, sondern auch unsere Kinder auffangen. Umso schöner war es, im Krankenhaus mit anderen Menschen mit Krebs in Kontakt zu kommen. Das wurde nach und nach mein soziales Umfeld, das Netzwerk, das mich unterstützt hat. Und am wichtigsten: Sie haben mir wertvolle Tipps gegeben – zum Beispiel wie ich mir selbst während der Chemo oder der Bestrahlung Mut zusprechen kann und mit Leitgedanken wie „Du Krebs wirst jetzt zerstört!“ die Therapie unterstützen kann. Dieser Austausch untereinander hat mir unheimlich viel geholfen – und das wollte ich zurückgeben.
Warum Krebsfreundschaften so wertvoll sein können >>>
Durch einen Bekannten im Krankenhaus wurde ich zunächst auf die Präventionskampagne „ohnekippe“ aufmerksam: Schülerinnen und Schüler werden hier darüber aufklärt, wie schädlich Rauchen ist. Das fand ich sehr gut, denn früher war uns nicht so bewusst, welche Folgen das Rauchen haben kann. Ich selbst war Raucherin und bin froh, dass die Aufklärung mittlerweile um einiges besser geworden ist. Gern habe ich mich den Fragen der Kinder gestellt. Es ist faszinierend, dass sich diese Fragen fast gar nicht von denen der Erwachsenen unterscheiden. Und nachdem wir in dem Projekt so gut zusammengearbeitet hatten, hat mich mein Bekannter gefragt, ob ich es mir vorstellen könnte, eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Von der Idee war ich direkt begeistert – so konnte ich Anderen meine Erfahrungen und Tipps weitergeben!
Also gingen wir es an: Anfangs hatte ich von der ganzen Organisation keine Ahnung und wurde mehr oder weniger ins kalte Wasser geworfen. Mittlerweile gibt es uns schon seit 14 Jahren und einige Mitglieder sind auch von Beginn an dabei – teilweise Angehörige, deren erkrankte Partnerinnen oder Partner mittlerweile leider verstorben sind. Aber sie kommen immer noch ab und zu in die Gruppe, weil wir sie damals unterstützt und ihnen Mut und Hoffnung gemacht haben. Mit der Selbsthilfegruppe hörte es aber nicht auf: Wir gründeten noch den Bundesverband und für mich ging es auch auf europäischer Ebene als Teil der Krebsorganisation LuCe (Lung Cancer Europe) weiter. Es ist wahnsinnig spannend, mit Menschen aus den verschiedensten Ländern zusammenzukommen und sich über die Unterschiede und Probleme auszutauschen. In Bulgarien dauert es zum Beispiel im Schnitt ein halbes Jahr, bis Betroffene überhaupt erst einen Termin beim Facharzt bekommen – bei Lungenkrebs ist das meist schon zu spät.
Es ist wichtig, dass jeder Mensch die bestmögliche Behandlung bekommt – und sich dabei vor allem nicht allein fühlt, sondern sich mit anderen austauschen kann. Das motiviert mich!
Annette, Lungenkrebsbetroffene
2021 flatterte ein Brief vom Bundespräsidenten bei uns rein. Ich wusste erstmal überhaupt nicht, was der denn jetzt wollen könnte. Als ich ihn aufgemacht habe, war ich baff: Ich sollte mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet werden, weil ich die Selbsthilfe für Lungenkrebsbetroffene mit aufgebaut habe. Zu meinem Mann meinte ich noch: „Die wollen mich doch auf den Arm nehmen! Ich soll da einen Termin machen, damit sie mir das Bundesverdienstkreuz verleihen!“ Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. Und bis heute weiß ich nicht, wer genau da alles involviert war, denn es muss mich ja jemand dafür vorgeschlagen haben. Natürlich habe ich mich über diese Ehrung gefreut, allerdings ist mein Engagement für mich selbstverständlich.
Wir sind keine Konkurrenz für medizinisches Personal – wir unterstützen es!
Es war uns immer wichtig, die Angehörigen mit einzubinden – deren Leid wird ja leider oft vergessen, obwohl sie auch stark von der Erkrankung betroffen sind. Sie sind die Personen, die die Menschen mit Krebs begleiten und auch während der schlechten Tage unterstützen. Und hier braucht jeder etwas anderes: Einige werden vielleicht gern bemuttert, andere gar nicht. Wichtig ist, sich vor Augen zu halten: Das ist noch derselbe Mensch mit demselben Charakter, nur dass er jetzt erkrankt ist. Das gebe ich den Angehörigen gern mit auf den Weg.
In einem weiteren Projekt richten wir uns direkt an die zukünftigen Ärztinnen und Ärzte. Hier lernen Medizinstudierende die Bedeutung von Selbsthilfe und den Umgang mit Betroffenen aus unserer Perspektive kennen. So können wir ihnen direkt mit auf den Weg geben, was wir uns von ihnen erhoffen: Nehmt euch Zeit, schaut den Menschen in die Augen und zeigt Empathie – kein Mitleid. Sprecht einfach und verständlich, setzt am besten kein Wissen voraus und erläutert zum Beispiel, was eine Chemotherapie oder Bestrahlung ist. Und fragt lieber einmal mehr nach: „Haben Sie alles verstanden?“ Ich sage den Ärztinnen und Ärzten immer, dass sie sich in die Situation hineinversetzen sollen: Wie würden sie reagieren, wenn sie zwischen Tür und Angel eine Krebsdiagnose erhalten?
Ab und zu kommt auch die Frage auf, was wir mit der Selbsthilfe zusätzlich zur Pflege und der ärztlichen Betreuung leisten. Meine Antwort darauf ist simpel: Wir haben die Zeit, um zuzuhören, uns an das Bett zu setzen und auch mit den Angehörigen zu sprechen. Das Pflegepersonal und die Ärztinnen und Ärzte haben das heutzutage oft leider nicht mehr – obwohl viele es wollen würden. Wir, als Selbsthilfe, begleiten die Menschen und können sie zusätzlich unterstützen. Aber eins ist klar: Medizinische Beratungsgespräche und die Besprechung der Therapieoptionen übernehmen wir nicht. Das ist Sache der Ärztinnen, Ärzte und des medizinischen Personals.
Inhaltlich geprüft: M-DE-00019455