Du bist doch selbst schuld - Vorurteile bei Lungenkrebs
Anders als bei anderen Krebsformen stoßen Lungenkrebs-Patienten oft auf gesellschaftliche Vorurteile: Als Raucher seien sie ja selbst schuld an ihrer Erkrankung. Das ist nicht nur falsch, sondern kann den Behandlungserfolg gefährden.
Als Experte für Lungenkrebs ist Dr. Scheffler Mitglied der Lung Cancer Group Cologne (LCGC). Das Thema „Stigmatisierung bei Lungenkrebs“ liegt ihm besonders am Herzen. Welchen Einfluss die gesellschaftlichen Vorurteile auf den Krankheitsverlauf haben können und wie Betroffene und Angehörige am besten damit umgehen, beantwortet er im Interview.
Krankheit als Strafe
Herr Dr. Scheffler, Stigmatisierung bei Lungenkrebs ist für viele Betroffene Realität – was versteht man darunter?
Stigmatisierung bedeutet, einem Patienten sozusagen ein Etikett auf die Stirn zu kleben, das mit seiner Grunderkrankung einhergeht. Dies kann mit der Ursache der Erkrankung zusammenhängen – Lungenkrebs wird häufig mit dem Rauchen in Verbindung gebracht. Stigmata können auch bei anderen Krebsarten ein großes Thema sein: Die Chemotherapie ist durch den Haarausfall eine stigmatisierende Therapie. Ohne Genaueres zu wissen, sind die Personen als krebskrank erkennbar.
Warum sind gerade Lungenkrebs-Patienten von diesen Vorurteilen ausgesetzt?
Zum einen liegt das sicher daran, dass die Prognose lange Zeit sehr schlecht war. Bis vor zehn Jahren war die Lebenszeit bei metastasiertem Lungenkrebs noch stark begrenzt. Zusätzlich wurde oft von einem Selbstverschulden der Erkrankung, zum Beispiel durch Rauchen, ausgegangen. Diese Wertung unterscheidet sich deutlich von anderen Erkrankungen – wie zum Beispiel bei einer Patientin mit Brustkrebs.
In diesem Fall geht in der Regel keiner davon aus, dass ihr Verhalten zur Erkrankung beigetragen hat und der Krebs nun eine Art „Strafe“ sein könnte. Bei Lungenkrebs spielen oft Vorwürfe wie „Du wusstest doch, dass Rauchen Krebs verursachen kann“, eine Rolle. Auch die etwa 20 Prozent unserer Patienten, die nie geraucht haben, sind davon betroffen.
Haben Sie bemerkt, dass sich Patienten aufgrund ihrer Lungenkrebserkrankung Sorgen über Vorurteile machen?
Ja, sehr oft. Es fängt damit an, dass Patienten oft Bedenken haben, ehrlich zu sagen, wie viel sie tatsächlich geraucht haben. Für uns Lungenärzte ist das aber wichtig, da sich Lungenkrebs molekular stark unterscheidet, je nachdem ob eine Person Raucher ist oder nicht. Dadurch ergeben sich auch ganz andere Therapien. Wir fragen also nicht vorwurfsvoll, wie es viele Personen sonst häufig erleben, sondern rein aus medizinischem Interesse.
Manche Patienten machen sich starke Vorwürfe, weil sie früher geraucht haben. Es kommt aber auch vor, dass Freunde nicht mehr anrufen, um sich zu erkundigen, wie es der erkrankten Person geht.
Auch Hausärzte und medizinisches Personal haben Vorurteile. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?
Dies sieht man in Kliniken und in der ambulanten Versorgung, zum Beispiel bei Hausärzten. Die aktuellen Entwicklungen bekommen wir Lungenexperten täglich mit, in anderen Fachgebieten herrscht dagegen teilweise noch ein eher veraltetes Bild vom erkrankten Kettenraucher. Noch bis 1995 gab es keine Daten, die eine Therapie bei Lungenkrebs empfohlen haben, da die Studienergebnisse so schwach waren. Ich bekomme daher öfters Anfragen für Vorträge, um aufzuzeigen, was es heute für Fortschritte in der Behandlung von Lungenkrebs gibt. Das hilft zu sensibilisieren und alte Sichtweisen aufzubrechen.
Wie können Patienten mit diesen Vorurteilen umgehen?
Es ist leicht gesagt, dass man solche Erfahrungen möglichst ignorieren soll. Ich nutze gerne ein Gegenbeispiel: Wenn beispielsweise ein Skifahrer oder jemand mit einem Sportwagen einen Unfall hat, wird er auch nicht verurteilt. Obwohl sich die Personen des Risikos voll bewusst sind.
Was kann Patienten helfen, die mit Selbstvorwürfen kämpfen?
Patienten sollten sich unbedingt mit anderen austauschen, zum Beispiel in einer Selbsthilfegruppe. Den meisten tut es gut, mit anderen Betroffenen oder mit Fachpersonal zu sprechen. Bei manchen ist auch die Familie eine wichtige Stütze.
Können solche emotionalen Belastungen den Krankheitsverlauf beeinflussen – und wenn ja, wie?
Sie können sich stark darauf auswirken. Ein klassisches Beispiel ist ein Raucher, der schon länger unter Husten leidet. Nach der Diagnose bekommt er Bluthusten, ein absolutes Alarmsignal. Doch aus Angst vor Vorurteilen und Vorwürfen geht er damit nicht zum Arzt. Verschiedene psychologische Studien haben auch gezeigt, dass durch diese Zusatzbelastung die Motivation, für sich selbst einzustehen oder selbst Kontakte zu suchen, stark abnimmt.
Das Problem der Stigmatisierung durch Angehörige und medizinisches Personal betrifft fast ausschließlich Lungenkrebspatienten. Andere Krebspatienten oder beispielsweise Herzpatienten werden deutlich seltener damit konfrontiert.
Haben Vorurteile einen Einfluss darauf, wie Patienten mit ihrer Erkrankung umgehen?
Zu diesem Thema gibt es nur wenige Studien. Klar ist aber, dass Vorurteile zum Beispiel beeinflussen, ob ein Patient oft ausgeht, soziale Kontakte pflegt und offen über seine Erkrankung spricht, etwa auch mit dem Hausarzt. Viele sprechen selten darüber und ziehen sich eher zurück. Auch die Therapietreue kann abnehmen. Das zeigt sich etwa darin, dass Tabletten nicht regelmäßig eingenommen werden. Dies ist kein Vorwurf, sondern nachvollziehbar, wenn jemand ständig hört, dass er sich die Erkrankung selbst zuzuschreiben hat.
Was müsste sich in der Öffentlichkeit ändern, um den Vorurteilen gegenüber Lungenkrebspatienten entgegenzuwirken?
Es ist wichtig, darüber aufzuklären, dass mindestens 20 Prozent der Lungenkrebspatienten nie geraucht haben. Dies sind meist besonders junge Personen, Mitte 20. Zum anderen ist die Prognose bei Lungenkrebs heute kein Todesurteil mehr. Es tut sich enorm viel bei den Diagnose- und Therapiemöglichkeiten. Wir können Patienten, die geraucht haben, genauso helfen wie denen, die nie geraucht haben. Dafür müssen wir zusammen mit den Patientenvertretungen noch mehr Bewusstsein schaffen.
„Wir müssen uns nicht verstecken!“
Barbara Baysal erkrankte 2001 selbst an nicht-kleinzelligem Lungenkrebs (NSCLC), einem Adenokarzinom. Seit 2003 engagiert sie sich in der Selbsthilfe. Sie hat die bundesweite Selbsthilfegruppe für Lungenkrebspatienten sogar mitgegründet. Inzwischen ist Barbara Baysal Vorsitzende im Bundesverband und betreut drei Gruppen als Ansprechpartnerin im Berliner Verein.
Frau Baysal, warum müssen Lungenkrebspatienten sich ständig Vorurteile anhören?
Salopp formuliert könnte man sagen: „Lungenkrebs ist keine gesellschaftsfähige Erkrankung.“ Das heißt, unsere Gesellschaft spricht ganz offen über die verschiedensten Tumorerkrankungen. Es gibt Kampagnen mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Prominente setzen sich dafür ein. Leider ist das bei Lungenkrebs kaum der Fall. Meiner Meinung nach spielt da häufig die Schuldfrage mit hinein. Das Vorurteil lautet, Lungenkrebspatienten seien von niedrigem sozialem Status. Deshalb würden sie rauchen und sich nicht richtig ernähren. Da wird häufig einiges hineininterpretiert, was nicht viel mit der Entstehung von Lungenkrebs zu tun hat.
Welche Erfahrungen haben Sie in der Selbsthilfe gemacht?
Ich sehe häufig, dass neue Betroffene dazukommen und sofort sagen: „Ich habe geraucht.“ Das spielt für uns jedoch keine Rolle. Negative Reaktionen kommen eher von außen. Mir hat beispielsweise eine Patientin vor mehreren Jahren erzählt, dass ein Arzt ihr keinen Sauerstoff verordnen wollte, sie würde ja rauchen – ganz ohne weitere Begründung. Das ist aber schon etwas länger her. Inzwischen wird Lungenkrebspatienten ja auch Rauchprävention angeboten, das war nicht immer so.
Dass Lungenkrebs weder von Gesellschaft noch Politik akzeptiert ist, erlebe ich immer wieder. Einmal kam ich bei einer Veranstaltung mit einer Bundestagsmitarbeiterin aus der Gesundheitsfraktion ins Gespräch. Als ich ihr sagte, dass ich von der Selbsthilfe für Lungenkrebs bin, machte sie einen Schritt rückwärts. Hätte ich Brustkrebs oder Darmkrebs gesagt, hätte sie wahrscheinlich anders reagiert. Es war auch unmöglich, einen Vertreter des Gesundheitsministeriums zu finden, der für unseren Patientenordner ein Vorwort verfasst.
Inwieweit erfahren Lungenkrebspatienten die Stigmatisierung durch andere?
Egal, ob es sich um Freunde, Bekannte oder Arbeitskollegen handelt – die erste Frage lautet immer: „Rauchst Du?“ Auch wenn man zu einem neuen Arzt geht und er nach Vorerkrankungen fragt, ist das so. Sobald man Lungenkrebs sagt, kommt sofort das Thema „Rauchen“ auf – ohne dass es in dem Moment relevant wäre. Sogar bei mir selbst ist es so. Deshalb sollten wir alle lernen umzudenken, ohne zu vergessen, dass Rauchen ein Risikofaktor ist.
Wie wirken sich diese Vorbehalte gegenüber Lungenkrebspatienten auf deren Leben aus?
Da ist natürlich Scham – und die Frage, ob man vielleicht wirklich dazu beigetragen hat. Oft verschweigen Betroffene die Krankheit, weil sie sich den Schuldzuweisungen nicht aussetzen wollen. Viele sagen dann zwar, dass sie krank seien, erwähnen aber Lungenkrebs nicht, sondern sprechen allgemein über Krebs. Es kann auch sein, dass Betroffene aus Angst vor der Diagnose den Arztbesuch hinauszögern, weil sie denken: „Mensch, ich rauche, dann bekomme ich bestimmt so eine Diagnose.“
Welche Erfahrungen haben Sie selbst nach Ihrer Lungenkrebsdiagnose gemacht?
Ich habe immer ganz offen über meine Diagnose gesprochen. Es immer wieder anzusprechen und auszusprechen, war für mich Therapie. So wurde die Erkrankung für mich normal. Niemals habe ich jemandem nicht von der Erkrankung erzählt, weil ich Angst vor der Reaktion hatte. Im Gegenteil: Manchen Leuten habe ich davon erzählt, die es nicht unbedingt wissen wollten. Daraufhin haben sich auch einige Bekannte zurückgezogen – teilweise aus Angst, teilweise aus Unverständnis.
Lungenkrebspatienten geben sich häufig selbst die Schuld an ihrer Erkrankung. Warum?
Weil das die vorherrschende Meinung ist. Die Gesellschaft macht uns dafür verantwortlich, dass wir Lungenkrebs haben. Natürlich gilt Rauchen als Hauptursache für Lungenkrebs ebenso wie für andere Krebsarten, aber da spielen auch andere Faktoren eine Rolle. So werden auch die mit Schuld beladen, die nie geraucht haben. Das sind immerhin zwischen 15 und 20 Prozent der von Lungenkrebs Betroffenen; sie befinden sich ständig in einer Verteidigungshaltung und betonen: „Ich habe aber nicht geraucht.“
Womit haben Lungenkrebspatienten zu kämpfen?
In der Selbsthilfe bekomme ich mit, dass manche noch nicht mal innerhalb der Familie ihre Erkrankung erwähnen, weil sie niemanden belasten möchten. Außerdem haben sie Angst, dass sie dann anders behandelt werden. Besonders wenn es im Vorfeld immer hieß: „Musst Du schon wieder rauchen? Hör doch endlich auf!“ Tritt dann die Erkrankung auf, fühlt sich das an wie ein Hammerschlag und so manch einer sagt sich: „Um Gottes willen, ich sag es bloß nicht. Sonst machen die mir noch mehr Druck.“ Die Selbsthilfe ist eine Möglichkeit, unter Gleichgesinnten darüber zu sprechen und die Maske fallen zu lassen. Dort kann man das besser als zuhause.
Wie könnte man die Vorurteile gegen Lungenkrebs abbauen?
Es wäre wichtig, Kampagnen zu starten. Im Mittelpunkt sollten folgende Botschaften stehen:
Man kann auch mit Lungenkrebs leben.
Man kann nur seine Zukunft verändern, aber nicht die Vergangenheit.
Lungenkrebs kann jeden treffen – unabhängig davon, ob man geraucht hat oder nicht.
Außerdem sollten die Medien öfter über die Erkrankung berichten. Es gibt so viele Themen, nur scheint mir der Lungenkrebs eine Nische zu sein, an die sich keiner herantraut. Doch sobald man viel und offen darüber spricht, wird der Lungenkrebs ein bisschen zur Normalität.
Was raten Sie Patienten?
Ihr müsst Euch nicht verteidigen oder Euch selber die Schuld geben, indem Ihr zum Beispiel sagt: „Naja, ich habe ja auch geraucht.“ Dabei können wir die Vergangenheit nicht rückgängig machen. Wir können nur in die Zukunft sehen und versuchen, offen darüber sprechen und es normal werden lassen – so wie andere Krebserkrankungen auch. Wir müssen uns nicht verstecken.